fonas steht für „Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit“. fonas ist entstanden aus einer Zusammenarbeit interdisziplinärer Forschungsgruppen, die seit 1988 an den Universitäten Bochum, Darmstadt, Hamburg und Kiel gegründet wurden.

FONAS hat im Rahmen des Angriffs auf die Ukraine folgenden Beitrag veröffenlticht:

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hält momentan die Welt in Atem und wirft viele Fragen zur internationalen Sicherheit und zu den humanitären Folgen des Krieges auf: Welche Auswirkungen haben die eingesetzten Waffensysteme auf die humanitäre und internationale Sicherheit? Welche Risiken und Eskalationspotentiale bringen sie mit sich?  

Bisher werden in diesem Krieg konventionelle Waffensysteme eingesetzt. Russland verfolgt dabei die Strategie, durch den Einsatz von Raketen und Panzern auf dem Land sowie auf dem Wasser die Ukraine zu erobern, aber auch im Cyberraum die Infrastruktur und Möglichkeiten der Informationsbeschaffung der Ukraine zu behindern. Die Ukraine selbst benutzt ebenfalls konventionelle Waffensysteme und rief zu zivilen Cyberangriffen auf Russland auf.

Diese Analyse und Interviews bieten einen Überblick, wie Expert*innen der Friedens- und Konfliktforschung die Lage und die Risiken dieser Waffensysteme und der Eskalationspotentiale einordnen, und welche weiteren unbeabsichtigten Risiken, wie etwa im Bereich der nuklearen Sicherheit, bestehen.  

Eskalationsrisiken

Das IFSH der Universität Hamburg hat am 04.03.22 den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt und mehrere Analysen als Beitrag der aktuellen Friedensforschung veröffentlicht: Regina Heller verweist besonders auf Schwächung der russischen Zivilgesellschaft, welche hohen Risiken ausgesetzt wird, wenn sie gegen den Krieg protestiert. Weiterhin wird der Krieg in den gleich-geschalteten staatlichen russischen Medien heruntergespielt und durch Narrative eines faschistischen und illegitimen Systems der Ukraine gerechtfertigt. Hierbei wurden bereits 7000 russische Protestierende festgenommen,  Heller warnt vor einer außer- wie auch innerstaatlichen Gewaltspirale. Alexander Graef zeigt in seiner Analyse jedoch, dass vor allem Intellektuelle und Kulturschaffende sowie einige Abgeordnete beider Parlamentskammern in Russland sich öffentlich gegen den Krieg aussprechen. Da alle politischen Entscheidungen im Kreml von Putin und seinen engsten Vertrauten getroffen werden, scheint ein Ende des Krieges durch diesen innenpolitischen Druck unwahrscheinlich. Weitere wichtige Themen der Kurzanalysen sind überdies die EU, die OSZE und die UN-Generalversammlung.

Ulrich Kühn (IFSH) bezeichnet am 24.02.2022 in einem Artikel für Bulletin of the Atomic Scientists die Invasion Russlands in die Ukraine als das Ende einer friedlichen, europäischen Ära. Er beschreibt, wie die USA und andere Staaten versuchen, die Ukraine zu unterstützen, ohne den NATO-Bündnisfall auszulösen und in einen direkten Krieg mit Russland zu geraten. Zwar kündigten die USA an, keine Truppen in die Ukraine zu senden, jedoch bleibe die Gefahr einer weiteren Eskalation des Konfliktes durch unbeabsichtigte Handlungen der NATO-Mitglieder oder Russlands. So wird in den nächsten Wochen, laut Kühn, die Gefahr einer „inadvertent escalation“ (unbeabsichtigten Eskalation) weiter steigen. Solche Eskalationen können auftreten, wenn ein Konfliktpartner die Wirkungen seiner bewussten Handlungen falsch einschätzt, sodass diese ungewollten Auswirkungen haben.

Kühn schildert überdies, wie schnell Russland innerhalb weniger Tage Dominanz über den ukrainischen Luftraum erlangte, wodurch die russische Luftwaffe gefährlich nahe an den NATO-Luftraum kommen könnten. Sollte Russland die ukrainische Grenze zu NATO-Mitgliedsstaaten wie Polen, Slowenien, Ungarn oder Rumänien kontrollieren, könne dies zu einem neuen eisernen Vorhang führen, welcher Europa spalte und gefährliche militärische Kontaktzonen mit Gefahr zur ungewollten Eskalation darstelle.

Auch die Ausrüstung ukrainischer Kräfte durch westliche Staaten enthält Potential zur ungewollten Eskalation, da Waffen schwer in die Ukraine transportiert werden können, solange Russland den ukrainischen Luftraum kontrolliert, Waffenlieferungen würden dementsprechend vermutlich per Landrouten stattfinden, was zu einem erhöhten Interesse Russlands an der Kontrolle der ukrainischen Grenzen zu NATO-Staaten führt. Um eine direkte Konfrontation der NATO mit Russland zu verhindern, rät Kühn daher westlichen Alliierten zu einer genauen Untersuchung, welche Risiken sie eingehen können, und NATO-Mitglieder müssten als Einheit auftreten, und solche Entscheidungen nur mit dem Konsens aller Mitglieder treffen.

Nukleare Sicherheit

Christoph Pistner (Öko Institut)

Am 27.02.2022 hat Putin die nuklearen Streitkräfte in höhere Bereitschaft gesetzt, was die Angst vor einem nuklearen Krieg in Europa erhöht. Doch wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit hierfür? Ulrich Kühn stellt in seiner Kurzanalyse für das IFSH fest, dass eine nukleare Bedrohung durch Russland zwar gering, aber dennoch real sei. So hat Russland noch Anfang dieses Jahres beteuert, dass ein Atomkrieg nicht zu gewinnen sei und deshalb nie stattfinden dürfe. Um das Risiko eines nuklearen Angriffes zu verringern, bräuchte es auf taktischer Ebene ständig offene Gesprächskanäle zwischen russischen und NATO-Militärs, um im Zweifelsfall unbeabsichtigte Vorfälle vorzubeugen, das NATO-Militär müsse insgesamt, besonders bei Waffenlieferungen, sehr darauf achten, der russischen Seite keinen Vorwand zur Eskalation zu geben. Auf strategischer Ebene sind, laut Kühn, dringend diplomatische Lösungen zur Eskalationsvermeidung nötig, da ein Nuklearwaffeneinsatz Russlands umso wahrscheinlicher wird, je länger der Krieg dauert und je höher damit der ökonomische Druck auf Russland wird.

Matthias Englert und Christoph Pistner vom Öko-Institut haben am 09.03.22 eine Pressemitteilung herausgegeben, welche die Lage der ukrainischen Atomkraftwerke ausführlich beschreibt: So sei in der Nacht auf den 04.02.22, aufgrund eines Angriffes Russlands, ein Feuer auf dem Gelände des ukrainischen Kernkraftwerks Saporischschja ausgebrochen. Das Feuer wurde zwar in den frühen Morgenstunden vollständig gelöscht und eine erhöhte Radioaktivität in der Umgebung konnte nicht gemessen werden, jedoch wurden das Reaktorgebäude des Blocks eins und der Bereich des Trockenlagers für abgebrannte Brennelemente getroffen. Bei der Bekämpfung des Feuers wurden zwei Sicherheitskräfte verletzt, Kernkraftwerke können als taktisches und strategisches Ziel für militärische Angriffe genutzt werden, um die Energieversorgung eines Landes zu destabilisieren.

Matthias Englert (Öko Institut)

Sowohl direkte Angriffe, als auch Kampfhandlungen in der Umgebung eines Atomkraftwerkes können schwere Folgen nach sich ziehen und radioaktive Materialien freisetzen oder zu einem Reaktorunfall führen. Direkte Angriffe erfolgen ausschließlich unter dem Motiv das radioaktive Inventar eines Reaktors als Waffe einzusetzen, was jedoch momentan nicht in Russlands Interesse stehen dürfte. Um die Sicherheit der Anlagen zur gewährleisten, rät das Öko-Institut eine Einigung der Kriegsparteien gegen Handlungen in der Nähe von kerntechnischen Anlagen, die Sicherstellung der externen Energieversorgung und dauerhaft freier Zutritt für das Personal auf das Kraftwerkgelände.

Ein Reaktorunglück in der Ukraine könnte unterdies auch Deutschland betreffen und je nach Wetterbedingen ähnliche Auswirkungen wie die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl 1986 haben. Das Kernkraftwerk Tschernobyl wurde in den ersten Tagen des Konfliktes von russischem Militär erobert, momentan herrscht große Sorge um den Stand der Sicherheit der nuklearen Abfälle vor Ort.

Ausführlichere Informationen zur Nuklearen Sicherheit in Krisengebieten sind in Matthias Englerts Bericht von 2017 über die Atomkraftwerke in der Ukraine und weiteren Regionen sowie die Herausforderungen für nukleare Sicherheit zu finden. Die Ukraine hat mit 15 Kernreaktoren an vier Standorten und einer Leistung von circa 13.000 MW einen sehr hohen Anteil von 50% an Atomstrom im Stromnetz.

Cybersicherheit

Prof. Dr. Christian Reuter

Christian Reuter (PEASEC) erklärte am 05.03.2022 in einem Interview mit der Zeitung “Die Rheinpfalz” am 05.03.22, dass es im Cyberraum so viele Akteure gibt, dass die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren zunehmend schwerfällt. Zwar stehen Cyberangriffe momentan nicht im Vordergrund des Krieges, jedoch sind bereits Ende 2021 Angreifer in ukrainische Systeme eingedrungen, um Vorbereitungen zu treffen. Unter Cyberangriffen versteht man im Westen meist die Durchsetzung militärischer Ziele durch Aktivitäten im Cyberraum gegen fremde IT-Systeme, in Russland bezieht man jedoch auch Desinformationskampagnen explizit in die Cyber-Kriegsführung ein. Diese können sowohl den Gegner verunsichern als auch die Moral der eigenen Bevölkerung stärken und zur Kriegsrechtfertigung dienen. Reuter vermutet überdies, dass NATO-Staaten nicht aktiv die kritische Infrastruktur Russlands angreifen werden, aus Angst, dass dies als Kriegshandlung aufgefasst wird.

In Christian Reuters Interview mit rheinmaintv am 02.03.2022 erklärte er, dass Cyberangriffe drei Arten annehmen können: Als Desinformationskampagnen, als Überlastungsangriffe durch DDoS (Distributed Denial of Service, Überlastung von Servern) und durch das aktive Ausnutzen von Schwachstellen, über welche man Informationen im Darknet kaufen kann. In diesen Beitrag bewertet Reuter des Weiteren den angekündigten Gegenangriff vom Anonymous-Kollektiv als “zweischneidiges Schwert”, da diese Angriffe zwar der Ukraine in der Verteidigung helfen könnten, gleichzeitig aber auch zivile russische Stellen treffen könnten, welche man nicht angreifen sollte. Insgesamt stellt er einen zunehmenden Trend zu einer hybriden Kriegsführung fest. Als Schutz gegen solche Angriffe rät er zur Verbesserung resilienter Systeme, die auf Angriffe reagieren können und schnellstmöglich wieder funktionieren, weiterhin müssten Angriffe auf die digitale Infrastruktur im Krieg offiziell verboten werden.

Thomas Reinhold, Dipl.-Inf. (WiMi · Doktorand)

In einem Tagesspiegel-Interview am 25.02.22 stellte Thomas Reinhold fest, dass Cyberangriffe zunehmend als geeignetes Mittel für die Durchsetzung politischer Interessen genutzt werden. Hierdurch wird die Idee eines Cyberspace als ziviler Raum, welcher geschützt werden muss, zunehmend in Frage gestellt. Im Zuge der Invasion Russlands wurden ukrainische Systeme per DDoS-Attacken angegriffen, was zu einer erschwerten Informationsbeschaffung der ukrainischen Bevölkerung führte.  Dies erklärt Reinhold ausführlicher im Interview mit Deutschlandfunk Nova am 04.03.22: Zwar gab es vor Beginn der militärischen Invasion bereits Angriffe durch DDoS oder Malware (Schadsoftware) von Russland gegen die Ukraine, jedoch begleiten staatliche Angriffe überraschenderweise momentan nicht offiziell die Kriegsführung. Stattdessen bekommen patriotische Hackergruppen eine besondere Rolle zugeschrieben, besonders von russischer Seite, welche selbstständig ukrainische Websites angreifen. Dies sei, laut Reinhold problematisch, da diese Hacker, anders als Soldaten, keinen Regeln oder Kommandos unterworfen sind und somit deren Handeln schwer vorhersehbar wird. Von ukrainischer Seite gab es währenddessen den offiziellen Aufruf an zivile Hackergruppen, russische IT anzugreifen. Dies sei zwar, laut Reinhold, strategisch nachvollziehbar, enthält allerdings ein großes Eskalationsgefahr, da Zivilpersonen sowohl in Russland als auch in der Ukraine hierdurch gefährdet werden können und das Internet so vernetzt ist, dass Schadsoftwares sich verselbstständigen könnten und ungewollte Schäden anrichten kann.

Auch Reuter erklärte im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 08.03.22, dass Cyberangriffe einen Staat zwar nicht besiegen werden, allerdings für geringen Preis doch enorme Wirkungen entfalten können, etwa durch Unterbrechungen der Telekommunikation oder der Energieversorgung. PEASEC, als eine von nur drei Professuren für naturwissenschaftliche Friedensforschung in Deutschland, wird hier besonders wichtig für die Forschung über Cyberangriffe.

Gefahren für Deutschland können ebenfalls bestehen: Über Schwachpunkte in deutschen IT-Systemen könnte die kritische Infrastruktur, wie die Strom- oder Wasserversorgung, angegriffen werden. In einem Interview mit WAZ am 26.02.22 stellt Christian Reuter fest, dass ein Schutz gegen solche Angriffe besonders schwerfällt, da es im Cyberspace sehr viele Waffen gibt, die nahezu jeder benutzen kann, und Entfernungen zwischen Angreifer und Angriffsziel keine Rolle mehr spielen. PEASEC kann hierbei die deutsche Politik unterstützen; Reuter rät zu einer Verbesserung der deutschen IT durch Verbesserungen von Krisenfrühwarnsystemen, Möglichkeiten zur Notfallkommunikation oder auch der Entwicklung von Rüstungskontrollmaßnahmen für den Cyberspace, um weitere Eskalations- und Aufrüstungsspiralen zu verhindern. In einem Zeitungsinterview mit der Frankfurter Rundschau stellt Christian Reuter am 28.02.22 überdies fest, dass schon das Wissen über eine Schwachstelle in einem System und ein passender Schadcode, um diese Schwachstelle auszunutzen, eine Cyberwaffe darstellt, und russische Hacker u.a. DDoS  oder Defacements (Verunstaltung von Websites) nutzen.

Zwar sind große Unternehmen der Infrastruktur mittlerweile sehr gut gegen Hackerangriffe geschützt, jedoch sind 80% der kritischen Infrastruktur Deutschlands Unternehmen, darunter kleine Wasserwerke oder lokale Strombetreiber, welche kaum Kapazitäten oder Expertise für einen umfassenden Schutz haben. Ein Angriff auf Schienennetze oder Züge sei unterdessen unwahrscheinlich, laut Reuter, da diese sehr aufwendig seien und besonderes Know-How benötigen.

Biowaffen

Gunnar Jeremias (ZNF, Uni Hamburg)

Laut Dr. Gunnar Jeremias vom ZNF  der Universität Hamburg sind biologische Waffen „Krankheitserreger, wie Viren und Bakterien, und biogene Gifte, wie etwa Rizin oder Botulinumtoxin, die zu nicht friedlichen Zwecken eingesetzt, hergestellt, oder vorgehalten werden“. Biowaffen können sowohl gegen Menschen als auch gegen Tiere oder Pflanzen genutzt werden. Das internationale Biowaffenübereinkommen verbietet international das Entwickeln, Lagern und Anwenden von Biowaffen, jedoch wird dessen Einhaltung nicht überwacht. Jeremias erklärte dies am 08.04.2020 in einem Artikel für Gesichter des Friedens und stellte damals fest, dass viele Länder sich an das Übereinkommen halten.

Schon in den vergangenen Jahren und jetzt verstärkt im laufenden Krieg hatte Russland wiederholt Vorwürfe erhoben, dass die Vereinigten Staaten in der Ukraine biologische Labore betreibben und von dortigen Aktivitäten jetzt auch behauptet, dass sie eine Verletzung des Biowaffenübereinkommens darstellen könnten. Es gibt nicht den geringsten Anlass zu glauben, dass diese Vorwürfe auch nur ansatzweise der Realität entsprechen. Tatsächlich haben die USA (wie auch Deutschland) im Rahmen von Programmen zur Förderung der biologischen Sicherheit biologische Forschungs- und Überwachungskapazitäten in der Ukraine geschaffen und tritt das Pentagon auch als Geldgeber auf; Zielsetzung ist aber öffentliche Gesundheitsfürsorge und die Erforschung von Infektionskrankheiten, die sich, auch im Zuge des Klimawandels, verstärkt nach Europa ausbreiten

 

zuletzt aktualisiert: 09.03.2022

FONAS: Putins Angriff auf die Ukraine: Wie bewerten Expert*innen der naturwissenschaftlichen und technischen Friedens- und Konfliktforschung die Sicherheitslage?