Die Coronapandemie stellt Gesundheitssysteme, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft weltweit vor nie dagewesene Herausforderungen.

Ob virtuelle Treffen mit Freunden, Meetings im Home-Office oder Informationsbeschaffung – die sozialen Medien sind in der aktuellen Krisensituation für die meisten unerlässlich. Der Online-Austausch mit Freund/innen, Familie und Arbeitskolleg/innen hilft in Zeiten von „Social Distancing“ gegen die soziale Isolation, birgt in Sachen Informationsverbreitung aber auch viele Risiken. Falschinformationen, sogenannte Fake News, können über die sozialen Medien besonders schnell verbreitet werden und werden in kritischen Zeiten verstärkt konsumiert.

In der Videoreihe  „Wissenschaftsdialog – Perspektiven auf Corona“ der Rhein-Main-Universitäten und des Mercator Science-Policy Fellowship-Programms reflektieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen der TU Darmstadt, der Goethe-Universität Frankfurt und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie weiterer Wissenschaftseinrichtungen im Rhein-Main-Gebiet über die aktuellen Auswirkungen der Corona-Krise.

Professor Christian Reuter geht auf die Wichtigkeit sozialer Medien zur Verbreitung von Informationen, woran man Fake News erkennt und welche Apps zu COVID-19 aktuell im Gespräch sind.

Reuter leitet den Lehrstuhl Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) im Fachbereich Informatik an der TU Darmstadt. Im Rahmen des LOEWE-Zentrums emergenCITY sowie der Mission „Secure Urban Infrastructures“ (SecUrban) des Nationalen Forschungszentrums für angewandte Cybersicherheit ATHENE forscht er mit seinem Team an der digitalen Selbstorganisation und Fake News in Sozialen Medien sowie Apps in der Coronakrise.

Interview mit Prof. Christian Reuter:

Welche Bedeutung haben soziale Medien in der aktuellen Situation?

Hilft der Austausch in sozialen Medien gegen soziale Isolation? Welche Bedeutung haben soziale Medien für die Verbreitung von wichtigen Informationen (z.B. Robert Koch Institut, Gesundheitsministerium)?

Soziale Medien spielen in der derzeitigen Krisensituation eine große Rolle. Beziehungen, die normalerweise in analogen Räumen gepflegt werden, finden vermehrt in virtuellen statt. Diese können Kontakte in der analogen Welt zwar nicht gänzlich ersetzen, wie man z.B. mit Blick auf seelsorgerische oder sozialpsychologische Tätigkeitsbereiche erkennt. Sie können jedoch, da sie ein „Beieinandersein“ im virtuellen Raum erlauben, entgegen sozialer Isolation wirken.

Austausch über digitale Plattformen mit dem sozialen Umfeld (ob mit Freund:innen, Familie oder Kolleg:innen) kann Vereinsamungsprozesse einschränken. Die konkrete Herausarbeitung von mentalen Folgen der Krise und psychologischen Dynamiken, die gegenwärtig mit Blick auf soziale Einbettung oder Isolation stattfinden können, ist eine interdisziplinäre Aufgabe.

Eine von uns im Jahr 2016 durchgeführte Studie ergab, dass Menschen in Deutschland sich nach wie vor gerne an traditionellen Medien (wie Tagesschau) orientieren und eine gewisse Skepsis gegenüber Informationen aus sozialen Netzwerken besteht. Auch in der jetzigen Krise vertrauen Menschen auf Informationen von etablierten Akteuren der Öffentlichkeit. Dem gegenüber werden soziale Medien als ein Sammelbecken von Fake News dargestellt.

Diese Perspektive ist zwar teilweise nachvollziehbar, allerdings werden soziale Plattformen auch von staatlichen Akteuren und traditionellen Medien benutzt. Erster Eindruck ist, dass dies vor allem passiert, um Falschmeldungen zu berichtigen, so wie es aber auch unabhängig davon der nutzenden Gesellschaft wichtige Informationen bereitzustellen. Dabei geht z.B. das Gesundheitsministerium in eine Frage-Antwort-Runde oder Social Media-Accounts von einzelnen Politiker:innen werden genutzt, um (auch mit Verweis auf Messenger) in Kontakt zu treten. Vor allem jüngere Menschen, aber auch allgemein die vielen Smartphonenutzer:innen und diejenigen, die Soziale Medien wie Twitter oder Facebook vermehrt zur Informationsbeschaffung (statt zum freundschaftlichen Kontakt) nutzen, kann man über Soziale Medien erreichen.  

Wie soll mit Falschinformationen umgegangen werden?

Was sind Falschinformationen? Wie können diese identifiziert werden? Erleben wir eine Zunahme von Falschinformationen? Kursieren zurzeit mehr Verschwörungstheorien in sozialen Medien als sonst? Sollen Falschinformationen ignoriert oder gezielt wiederlegt werden?

Unter Fake News verstehen wir alle Formen falscher, ungenauer oder irreführender Informationen, die so konzipiert, präsentiert und gefördert werden, dass sie vorsätzlich öffentlichen Schaden verursachen oder für Profit sorgen sollen (European Comission, 2018).

In der Forschung konnte man verschiedene Indikatoren ausmachen, die Fake News kennzeichnen. Dazu gehören zum Beispiel viele wütende Emoticons. Aber nicht alle Nachrichten, die viele Emoticons oder Ausrufezeichen enthalten, sind automatisch Fake News. Wichtiger ist auf den Inhalt eines Posts zu schauen. Spricht er von einer Verschwörung seitens einer kleinen Weltelite?

Generell ist die Verbreitung von Falschinformationen nicht neu. Soziale Medien erlauben jedoch eine Beschleunigung der Verbreitung und mindestens seit der US-Präsidentschaftskampagne 2016 haben Fake News einen großen Stellenwert in öffentlichen Debatten eingenommen. Von einer Zunahme von Fake News ist angesichts der Krise auszugehen, muss aber noch genauer überprüft werden.

In Krisenmomenten werden Fake News verstärkt konsumiert, um mit der Komplexität der Situation umzugehen. Gleichzeitig eröffnet die Corona-Krise neue Möglichkeiten, Themen wie die Rolle der klassischen Medizin verstärkt anzugehen und zu instrumentalisieren. Es liegt im Ermessen der User:innen, ob Fake News gezielt von ihnen angegangen werden können. Nicht jede:r möchte und kann sich in endlose und evtl. nicht zielführende Diskussionen begeben; Ignorieren kann auch eine gute individuelle Strategie sein – schließlich leben Fake News auch von ihrem Publikum.

Ich halte es für wichtig, dass zudem die Plattformbetreiber sozialer Medien verantwortungsvoll handeln. Dies bedeutet unter Umständen auch eine Kennzeichnung von Informationen als falsch oder dass es sich z.B. um social bots handelt. Wichtig ist hierbei, dass User:innen verstehen können, warum etwas als fake eingestuft wird, aber auch, dass nicht leichtfertig Informationen in diese Kategorie fallen.

Welche Rolle spielen Apps?

Welche Ziele verfolgen Apps vom Robert-Koch-Institut oder anderen Forschungseinrichtungen (z.B. Universität Marburg)? Sind diese seriös? Ist das Tracking von Handydaten in Deutschland möglich? Ist es rechtlich und politisch wünschenswert? Sehen Sie eine Gefahr durch Überwachungsapps? Umgang im Widerspruch Wahrung der Privatsphäre und Schutz von Menschenleben? Welche Rolle spielen Notfallapps?

Die vom RKI geförderte „Datenspende-App“ orientiert sich an einem US-amerikanischem Beispiel, das gute Prognosemöglichkeiten der Virusverbreitung andeutet. So möchte man mit den durch das Tragen von Smartwaches und Fitnessbändern gesammelten Daten die geographische Ausbreitung sowie Symptome einer COVID-19-Infektion feststellen. Wichtig ist hierbei, dass dies auf freiwilliger Basis passiert. Die Pseudonymisierung von Daten verweist darauf, dass es dem RKI nicht um den Namen einer Person geht. Stattdessen geht es aber bei manchen Apps um andere persönliche, sensible Daten wie Körpergewicht, Ruhepuls, Kalorienverbrauch.

Mit Blick auf Privatheit und Datenschutz ist es wichtig, dass den individuellen Nutzer:innen klar ist, dass sie die Zustimmung, ihre Daten bereitzustellen, jederzeit widerrufen können (also nicht dauerhaft „spenden“), bei Interesse sich den Quellcode anschauen können (hier nicht der Fall wie vom CCC kritisiert).

Generell kann es (gesundheits-)politisch wünschenswert sein, die Ausbreitung des Virus über Tracking nachzuvollziehen und einzudämmen. Dies kann sich allerdings auch an ethischen und rechtlichen Bedenken reiben, wobei vor allem die Dauer der Datenübermittelung (temporär), Transparenz gegenüber Bürger:innen sowie die Notwendigkeit der Datenübermittlung (Angemessenheit, Anonymisierung) hier relevant sind. Die politische Diskussion darüber ist m.E. notwendig.

Dabei geht es auch darum, ob etwas erst einmal mit Blick auf den Datenschutz unproblematisch sein kann, aber sich langfristig durch eine in Krisenzeiten eingeschlagene politische Richtung negative Folgen für die Gesellschaft ergeben. Notfall-Apps können hilfreiche Vernetzungsplattformen in der Krise darstellen. Ebenso wird mit PEPP-PT seitens versch. europäischer Akteure an einer „Corona-App“ gearbeitet, die mit einem Softwareupdate auch Eingang in Notfall-Apps wie NINA fände. Wichtig ist sind hier dieselben Aspekte wie generell: Freiwilligkeit (manuelle Zustimmung), Datenschutz.

Auch in die Lehre findet dies Eingang. Die Themen werden im Seminar Cyber-Sicherheit, -Krieg und -Frieden sowie im Praktikum Sicherheits-, Friedens- und Kriseninformatik behandelt.

 

Diese Arbeit wurde durch die LOEWE Initiative des Landes Hessen im Rahmen des LOEWE Zentrums emergenCITY sowie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) im Rahmen ihrer gemeinsamen Förderung für das Nationale Forschungszentrum für angewandte Cybersicherheit ATHENE unterstützt.

Literatur:

Weitere Informationen zum Thema Fake News

  • Christian Reuter, Katrin Hartwig, Jan Kirchner, Noah Schlegel(2019)Fake News Perception in Germany: A Representative Study of People’s Attitudes and Approaches to Counteract Disinformation, Proceedings of the International Conference on Wirtschaftsinformatik (WI), 1069-1083, Siegen, Germany: AIS, pdf
  • News-Artikel: https://peasec.de/2019/fake-news/

Weitere Informationen zum Thema Soziale Medien in Krisen

Weitere Informationen zum Thema Apps in Krisenlagen

  • Jasmin Haunschild, Marc-André Kaufhold, Christian Reuter(2020)Sticking with Landlines? Citizens’ and Police Social Media Use and Expectation During Emergencies, Proceedings of the International Conference on Wirtschaftsinformatik (WI), Potsdam, Germany: AIS Electronic Library (AISel), pdf, doi:10.30844/wi_2020_o2-haunschild
  • News-Artikel: https://peasec.de/2020/wi-best-paper/

In den Medien:

LOEWE-Zentrum emergenCITY forscht zu digitaler Selbstorganisation und Fake News in Social Media in Zeiten der Coronakrise (ProLoewe)

 

Wissenschaftsdialog – Perspektiven auf Corona der Rhein-Main-Universitäten: Soziale Medien und Apps in der Coronakrise