Prof. Christian Reuter von der TU Darmstadt spricht in einem Interview des Online-Journals „Verwaltung der Zukunft“ über Einfluss und Bedeutung von Sozialen Medien in Notfällen und Krisensituationen und über den Umgang mit Falschinformationen.
Unter anderem plädiert Reuter dafür, NutzerInnen von Sozialen Medien dabei zu unterstützen, eigene Beurteilungen vorzunehmen anstatt sich hauptsächlich auf das Erkennen und Kennzeichnen gefälschter Nachrichten zu konzentrieren. Die WissenschaftlerInnen haben dazu das Browser-Plugin TrustyTweet entwickelt und implementiert. Das Plugin unterstützt NutzerInnen von Twitter bei der Bewertung von Tweets, indem es politisch neutrale und intuitive Warnungen anzeigt, ohne Reaktanz zu erzeugen.
Soziale Medien haben nicht nur im Alltag eine große gesellschaftliche Durchdringung – sondern sie stellen den Staat auch vor Herausforderungen, von der Kommunikation in Notfällen und Krisensituationen bis zum Umgang mit Falschinformationen. – Ein Interview zum aktuellen Forschungsstand.
VdZ: Social Media spielen nicht nur im gesellschaftlichen Alltag eine immer größere Rolle, sondern auch bei der behördeninternen Kommunikation oder etwa bei der Interaktion zwischen Staat und Bürger. Welche Rolle kommt sozialen Medien denn heute in Notfällen und Krisensituationen zu und wie gestaltet sich die Kommunikation in der Praxis?
Reuter: Das haben wir uns auch gefragt und haben eine repräsentative Studie durchgeführt [3]. Zahlreiche (44%) der 1.069 Befragten nutzen Soziale Medien in Notsituationen, um Informationen zu suchen und zu teilen. Konkrete Erwartungen den Behörden gegenüber sind, dass diese Soziale Medien monitoren (67%) oder innerhalb einer Stunde auf virtuelle Anfragen reagieren (47%).
VdZ: Es lässt sich nicht vermeiden, dass nicht ganz richtige oder auch gänzlich falsche Informationen in Umlauf geraten oder gezielt in Umlauf gebracht werden, die selbst Einsatzkräfte in die Irre führen. Handelt es sich dabei um Einzelfälle oder ist das inzwischen ein übergreifendes Phänomen?
Reuter: Die größten Hindernisse seien falsche Gerüchte (für Dreiviertel der Befragten) und unglaubwürdige Informationen. Viele Menschen sind skeptisch und möchten Sozialen Medien in Gefahrenlagen nicht vollständig vertrauen. Da zahlreiche Inhalte dort nach ausschließlichem Lesen der Überschrift bereits geteilt werden, ist gewisse Vorsicht und Abwägung, was man glaubt und was man teilt, auch sinnvoll.
VdZ: Gibt es Möglichkeiten, die Echtheit von Informationen aus sozialen Netzwerken überprüfen?
Reuter: Der Umgang mit gefälschten Nachrichten in sozialen Medien hat sowohl im politischen als auch im sozialen Bereich an Bedeutung gewonnen. Während sich viele Ansätze hauptsächlich auf das Erkennen und Kennzeichnen gefälschter Nachrichten konzentrieren, fehlen Ansätze, die Benutzer dabei unterstützen sollen, eigene Beurteilungen vorzunehmen. Wir haben hier den White Box Ansatz gewählt, d.h. nicht aussortieren für den Nutzer, sondern transparente Unterstützung des Nutzers. Konkret haben wir das Browser-Plugin TrustyTweet [1] entwickelt und implementiert, das die Nutzer von Twitter bei der Bewertung von Tweets unterstützt, indem sie politisch neutrale und intuitive Warnungen anzeigt, ohne Reaktanz zu erzeugen.
VdZ: Stehen diese Technologien den Behörden inzwischen in der Breite zur Verfügung und wie intensiv werden sie in der Praxis genutzt?
Reuter: Eine weitere unserer Umfragen [4] mit Behördenvertretern hat gezeigt, dass mehr als 50% der Umfrageteilnehmer soziale Medien auf verschiedenste Weise wenigstens gelegentlich vor oder während Notfällen nutzen. Diese nutzen soziale Medien aktuell am ehesten, um Informationen zur Vermeidung von Unfällen oder Notfällen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Vereinzelt werden Technologien dafür genutzt, jedoch noch nicht flächendeckend. Technologien zur Überprüfung der Echtheit werden derzeit meiner Kenntnis nach noch weniger verwendet.
VdZ: Immer öfter kommt es zu einem Wettlauf etwa zwischen den Sicherheitsbehörden und den sozialen Medien, über die Informationen transportiert werden. Genügen die vorhandenen Lösungen, um als Staat auch im Angesicht von Social Media schnell genug und souverän reagieren zu können?
Reuter: Es gibt natürlich technische Lösungen, aber auch noch weitere Potentiale. Wenn wir Fake News betrachten [2]: Als Konsequenz im Umgang mit Fake News befürwortet eine große Mehrheit der Teilnehmer (81%) eine schnelle Reaktion der zuständigen Behörden. Generell lag die Zustimmungsquote für Vorschläge (zum Beispiel Verpflichtung der Betreiber, Verschärfung der Strafvorschriften oder Einrichten staatlicher IT-Abwehrzentren) bei 72%. Auch forschen wir an Lösungen, um dies weiter zu verbessern.
- Katrin Hartwig and Christian Reuter. 2019. TrustyTweet: An Indicator-based Browser-Plugin to Assist Users in Dealing with Fake News on Twitter. In Proceedings of the International Conference on Wirtschaftsinformatik (WI).
- Christian Reuter, Katrin Hartwig, Jan Kirchner, and Noah Schlegel. 2019. Fake News Perception in Germany: A Representative Study of People’s Attitudes and Approaches to Counteract Disinformation. In Proceedings of the International Conference on Wirtschaftsinformatik.
- Christian Reuter, Marc-André Kaufhold, Thomas Spielhofer, and Anna Sophie Hahne. 2017. Social Media in Emergencies: A Representative Study on Citizens’ Perception in Germany. In Proceedings of the ACM: Human Computer Interaction (PACM): Computer-Supported Cooperative Work and Social Computing, 1–19. https://doi.org/https://doi.org/10.1145/3134725
- Christian Reuter, Thomas Ludwig, Marc-André Kaufhold, and Thomas Spielhofer. 2016. Emergency Services Attitudes towards Social Media: A Quantitative and Qualitative Survey across Europe. International Journal on Human-Computer Studies (IJHCS) 95: 96–111. https://doi.org/10.1016/j.ijhcs.2016.03.005
Das Interview wurde zuerst im Online-Journal Verwaltung der Zukunft publiziert: https://www.verwaltung-der-zukunft.org/oeffentliche-sicherheit/zur-reaktionsfaehigkeit-des-staates-zeiten-von-social-media.